18 Juni 2021

Urlaubsgruß


Hallo, ich bin der oberste Stein am Ende der Brücke.

Ich bin so alt und stehe in der Mitte des Nichts

Und frage mich, wo ich anfangen soll.

Ich bin verloren, man hat mich verloren.

Irgendwann zwischen gestern und morgen, zwischen jetzt und gleich.

Irgendwann bin ich nicht mehr der Letzte.

Dann bin ich wieder da, wo ich angefangen habe.


Besuch mich doch mal.

[Brücke von Avignon, 2/1986]


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11 Juni 2021

Zeit

Wenn man aus dem Fenster sieht
Merkt man, dass sich viel verzieht
Die Zeit, der Raum
Man merkt es kaum
Und wenn auch meist nicht viel passiert
Man altert und ist irritiert
Dass sich so viel so schnell verändert.

Das ist auch weiter gar nicht fraglich
Das Wetter, mal schön, mal unbehaglich
Zieht auch dahin, wie ohne Ziel
Es ändert sich, doch nicht sehr viel
Und wenn länger mal die Sonne scheint
Dann wär‘s verrückt, wenn jemand meint
Dass dieses nun so bleiben müsste.

Nur bei der Zeit sind alle einig
Sie kommt und geht, sie hat‘s nicht eilig
Es sei denn, in den schönen Stunden
Ach je, was sind die schnell geschwunden
Doch wehe, muss man einmal warten
Hat keinen Kaffee, keine Karten
Dann sind Minuten Ewigkeiten.

Drum lasst mich dies zusammenfassen
Genießt die Zeit! Ihr könnt‘s zwar lassen
Doch wäre dies ein großer Irrtum
Denn allzu schnell vergeht der Reichtum
Den wir uns hier auf Erden sammeln
Und wenn wir dann vor Petrus stammeln
Da unten hab ich‘s doch zu was gebracht
Dann denkt euch nur, wie der wohl lacht
Das sind doch keine Plus-Einheiten.

Nun denn, ihr lieben Erdenwühler
Ich weiß, ihr seid gelehr’ge Schüler
Auch wenn das manchmal nicht so scheint
Wir sind und bleiben fest vereint
Im Geist, in Worten und in Taten
Wenn einstens wir durch Kübel waten
Die unten schon der Teufel heizt
Dann wisst ihr, dass die Seele beizt
Weil ihr doch manches schlecht gemacht.

Nur eines will ich euch noch sagen
Wer’s Leben liebt wird nicht verzagen
Und wenn wer meint, er könnt‘ es besser
So sag’ ich euch: Lasst diese Fresser
Lasst diese Säufer und Proleten
Mit ihnen geht’s wie mit Kometen
Auch wenn sie schön am Himmel steh‘n
Sie müssen doch so bald vergeh’n
Und länger währt die dunkle Zeit.

Das Leben scheint oft wie ein Traum
Es fliegt vorbei, man merkt es kaum
Doch ist’s zu guter Letzt zu Ende
Um uns herum vier schwarze Wände
Kein Fenster um hinauszusehen
Wie Zeiten kommen oder gehen
Ja, Zeit – spielt keine Rolle mehr.

04 Juni 2021

Lingerie when wet


Wie jeden Freitag treffe ich mich nachmittags mit Steffi zum Plaudern und gemütlichen Zusammensitzen. Heute ist auch ihre beste Freundin Judith mit von der Partie, sie hat ihren Freund Thomas mitgebracht. Auf dem etwas in die Jahre gekommenen Couchtisch steht das übliche Tea-for-two Gedeck, Tassen mit dem Aufdruck „ME“ und „YOU“. Für die zusätzlichen Gäste hast Steffi bei ihren Eltern noch ein paar Kaffeetassen stibitzt und dabei vermutlich in der Vitrine noch Kandiszucker entdeckt.

Jedenfalls sitzen wir so gut es geht zu dritt auf dem Zweisitzer, Thomas ist weitgehend im Sitzsack eben der Couch versunken. Er erzählt gerade ein Erlebnis aus der Schule, eine lustige Panne beim Sportunterricht heute. Der Referendar hat den Fosbury-Flop vorgemacht und zum Entzücken aller Mädchen ist sein T-Shirt dabei über seinen Sixpack hochgerutscht.

Judith weiß nicht so recht, was sie dazu sagen soll, eine Mischung aus Begeisterung und Verlegenheit lässt ihr das Blut in die Wangen schießen. Oder waren die Wangen schon vor der Geschichte gerötet? Sie beugt sich zu meinem Schwarm herüber, flüstert der Freundin was ins Ohr und schon springen die zwei auf und lassen Thomas und mich alleine zurück. Männerrunde. Wir schauen uns etwas überrascht an, Thomas wechselt zu mir auf die Couch und wir nutzen die Gelegenheit, um über die neuesten Schallplatten zu diskutieren.

Dann stehen die beiden Mädchen wieder genauso unvermittelt im Zimmer, wie sie verschwunden waren. Nur dass zwischendurch ziemlich viel passiert sein muss. Sie sind geschminkt, tragen Lippenstift und haben sich die offenen Haare zusammengemacht. Aber noch viel bemerkenswerter ist die Kleidung, denn nun haben sie nur noch leichte Strandkleidchen an und darunter – unübersehbar und geradezu aufreizend – hübsche Unterwäsche.

Die Überraschung ist den beiden geglückt, wir starren sie an wie von einem anderen Stern, mir schießen Begriffe wie Reizwäsche und Spitzenhöschen durch den Kopf. Stille, endlich durchbrechen die Mädchen die unangenehme Spannung, indem sie sich bei den Händen fassen und anfangen zu kichern. Jetzt müssen alle lachen, die Stimmung wird ausgelassen, Thomas und ich feuern das Paar an, das nun auf der anderen Seite des Couchtischs Polonaise macht, mit Drehungen und Posen.

Und dann seid ihr wieder weg. Als wäre es reine Einbildung gewesen, ist der Raum wieder leer. Ein zarter Duft von Parfüm liegt noch in der Luft, sonst keine Hinweise auf eure Anwesenheit. Wir warten noch einen Moment, ob die Tür wieder aufspringt und ihr zurückkommt, mit der nächsten Überraschung vielleicht? Aber sie bleibt zu, wir sind ein wenig enttäuscht, aber im Moment passiert einfach nichts mehr.

Es vergeht einige Zeit, bis Steffi wieder herein kommt, auch Judith ist dabei, ein Tablett in der Hand. Auf den Lippen sieht man noch Reste vom Lippenstift, auch die Mascara ist nur halbwegs verschwunden. Aber die Kleidung ist wieder alltäglich, kein Hinweis auf die Lingerie. Und mit Unschuldsmiene verteilt ihr Gläser mit Limonade und feiert vermutlich innerlich euren Mut und die gelungene Wirkung auf die beiden hin- und hergerissenen Jungs. 

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