27 November 2020

Was mir an einem ganz normalen Sonntag so alles passiert

Frühmorgens beobachte ich fremde Rehe bei ihrer vierbeinigen Expedition in die zweibeinige Welt.

Anschließend haue ich ein paar Eier in die Pfanne und mich noch mal aufs Ohr.

Dann lehne ich mich mit der gesamten Macht der Sprache wider den Irrsinn der Sprachlosigkeit auf.

Zu Mittag fliege ich aus der Kurve meines ewigen Kreislaufes heraus.

Kurz darauf mahlzeite ich ohne Rücksicht auf die Uhr.

Für den Nachmittag habe ich mir die aussichtslose Verfolgung meiner Interessen vorgenommen.

Beim Blick in den erblindenden Spiegel der literarischen Woche entdecke ich Ungereimtheiten.

Vor dem Abendessen repariere ich Gedichte und wechsle die Erleuchtungen im Denkzimmer.

Zum Abendtrinken versammle ich meine Gedanken um mich.

Spätabends gieße ich den griesgrämigen Spot meiner Worte in die wehrlose Tastatur.

Schließlich lege ich mich ins gemachte Bett und bete, dass der Herr seinen Scheffel über mein Licht stellt.

Am Ende des Tages schlafe ich eingelullt von der Ruhe meiner eigenen Zeilen ein.

20 November 2020

Leere

Es ist dämmrig, Licht von der Straßenbeleuchtung und der Neonreklame fällt durch das Fenster. Ein kleiner, grüner Wurm kriecht langsam aus meinem Blumentopf, um seine Nachtwanderung zu beginnen. Er klettert am Rand herunter und erreicht den Untersetzer.

Ich stehe auf, gehe zu meinem Schreibtisch, sehe ihm bei seinem Geschäft zu. Draußen hupt ein Auto, ein anderes bremst quietschend. Die Dunkelheit bricht herein, aber ich kann mich nicht entscheiden, das Licht anzumachen. Ich denke an zu Hause. An meine Eltern und mein Zimmer. Es ist alles so weit weg. Mein Leben ist so neblig, ob es richtig ist so, weiß ich nicht. Nicht mehr. Der Wurm kriecht über meinen Schreibtisch auf das Glas zu. Wenn er da hineinfällt, ist er tot, denke ich. Vielleicht krieche ich auch auf irgendetwas zu…

Meine Freundin ist schwanger (ich weiß nicht, von wem), aber auch sie ist weit weg. Ich will das Kind nicht, habe ich zu ihr gesagt. Aber sie meinte nur, dass das ja wohl ihre Sache ist und überhaupt, wir Männer wollten immer nur den Spaß. Das Glas. Es steht auf dem Schreibtisch, außerhalb meiner Reichweite. Der Wurm ist daran vorbeigeglitten.

Ich stehe wieder auf, diesmal, um den Rolladen ein Stück herunterzulassen. Soll ich die Schreibtischlampe anknipsen? Nein, es wäre zu hell, ich hasse Helligkeit, ich bin ein Wesen, das seinen Weg lieber im Dunklen sucht, auch wenn ich dann Angst habe. Angst vor der Nacht, wie ein verirrter Wanderer.

Das Glas lockt mich. Ich nehme es auf dem Weg zu meinem Sessel mit. Es ist schweres Bleiglas, darin eine braune Flüssigkeit. Vielleicht ist es Blut, eingetrocknetes Blut von Dir, aufgelöst in Wasser, verdünnt mit Gin. Dein Blut war nie rot, es war seltsam braun; Weißt Du noch, wie ich es das erste Mal sah?
Ich nehme einen Schluck, der bitter schmeckt. Ich denke nach, dabei fällt mir der Wurm ein. Er ist immer noch auf meinem Schreibtisch, sehe ich. Inzwischen wird es draußen Nacht, ich werde müde und das Glas langsam leer. Da wieder dieser bittere Geschmack.

Aus einer Wohnung unter mir höre ich Musik, vielleicht ist es auch der Fernseher oder ein vergessenes Radio, dessen Skala in der Nacht leuchtet. Ich kenne das Lied, aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich es zuletzt gehört habe. Es ist schön, etwas zu hören, zu hören außer Autos, außer dem Telefon, das ich klingeln lasse. [07/1987]

12 November 2020

Pubertät

Alles wächst, alles sprießt
Wie ein Samenkorn im Regen
Voller Saft, voller Kraft
Meinem Lebensziel entgegen.

Ich bin jung, ich bin stark
Die ganze Welt liegt mir zu Füßen
Vorwärts jetzt, ohne Ziel
Und die Spießer lass ich grüßen

Ich steig ein, gebe Gas
Alles summt in meinem Schädel
Schnall Dich an, das wird schön
Heute Nacht bist Du mein Mädel.

Es geht los, heben ab
Vor uns nur der nackte Himmel
Unter uns liegt das Land
Voller menschlichem Gewimmel

Fliegen hoch, fliegen schnell
Turbolenzen sind uns nichtig
Schau nicht rechts, schau nicht links
Nur nicht zweifeln, wir sind richtig.

Landen jetzt, Erdkontakt
Nirgendwo ist hier und heute
Gestern geht, morgen kommt
Suchen nach der Lebensbeute.

Wo wir geh’n, wo wir steh’n
Leitplanken sind uns zuwider
Weg damit, tritt sie ein
Herzlos trampeln wir sie nieder

Bleibe wach, schlaf jetzt nicht
Für uns ist noch viel zu machen
Ganz egal, wo und wie
Auch beim Träumen kann man wachen.

Lieb‘ mich so, wie ich bin
Unsere Herzen sind wie Diebe
Wir sind jung, wir sind schön
Unbemerkt bestimmt durch Triebe.

Und zum Schluss halt mich fest
Lass uns in die Zukunft sehen
Was draus wird ist nicht klar
Doch durchs Leben woll’n wir gehen.

06 November 2020

Auf dem Weg nach L. A.

Staubig die Landstraße. Thorsten sitzt neben mir am Lenker eines umgebauten LT, erzählt Anekdoten aus seinem Leben, während auf dem Rücksitz seine Freundin liegt und döst.

Aufgegabelt haben mich die zwei in Salt Lake City, ich will eigentlich auf meinem Weg nach L.A. in das Abenteuerparadies Las Vegas, erleben, was mir andere erzählen, Spielergefühl entwickeln für die Unwirklichkeit einer ganzen realgeträumten Stadt. Aber die Verlockung war  zu groß, als ich an der Tankstation auf einem Stein hockend von den beiden angesprochen und zur Mitfahrt in Richtung Sacramento eingeladen wurde.

Das Autoradio hat noch ein Kassettenfach, in Dauerschleife laufen Flower-Power-Titel, Aretha Franklin erkenne ich, die meisten psychodelischen Stücke habe ich noch nie gehört. Ob die Frau auf dem Rücksitz stoned, betrunken oder einfach nur müde ist, bleibt so unklar wie der rote Faden in den Erzählungen meines Fahrers, der mich seit Stunden durch die Wüste kutschiert. Nur nicht liegenbleiben jetzt, mit dem altersschwachen Camper in der Mittagshitze ist es ohnehin kein Spaß, und die Aussicht auf ein Kirschblütengemeinschaft-Camp irgendwo vor LA lockt mich deutlich weniger als meine Gastgeber. Ein Sabbat-Jahr haben sie sich genommen, wird Thorsten lebendig und zurück zu den Wurzeln sei ihre Devise, freie Liebe und bewusstseinserweiternde Drogen spielten eine Rolle. In Deutschland könne man da lange suchen, nur Spießer gäbe es und moralinsaure Genossen, missgünstig weil selbst lebensunzufrieden. Als ob die moderne Welt nur aus Youtube und Whatsapp bestünde, der Körper nicht auch seinen Tribut erwarte und von uns bedient werden wolle.
Seit heute Morgen haben wir schon rund 400 Meilen hinter uns gebracht, sandreich und abwechslungsarm die Landschaft, das Ziel ist der Weg und irgendwelche kleinen Örtchen liegen gottverlassen vor uns, irgendwelche Erhöhungen abseits der Route, irgendwelche Abzweige, die genauso nach Nirgendwo führen wie die kurzen Kommentare von der Rücksitzbank bei geöffnetem Fenster.

Halt jetzt, der LT braucht eine Pause, Thorsten öffnet die hintere Tür, matratzengepflasterter Blechboden lädt in eine Liebeshöhle, in die er mit Miriam hineinklettert. Ob ich mitkommen wolle oder lieber eine Runde um den Block laufen wolle, fragt mich die Mitvierzigerin augenzwinkernd, während sie die Sandalen abstreift und Anstalten macht, auch andere Hüllen fallen zu lassen. Als Antwort lasse ich mich schattenseitig in den Staub fallen, strecke die beifahrersitzgeplagten Knochen und wünsche viel Spaß beim entspannenden Intermezzo.

Miriam sitzt am Steuer, bis Reno noch runde vier Stunden und mir kommen Zweifel, ob ich heil ankomme oder in die Fänge eines liebestollen Teufels geraten bin. Die stolzgeschwellte Brust der Aufzählung vernaschter Anhalter soll mir wohl Mut machen, meine Verklemmung zu überwinden und meinem Körper zu geben, was ich doch auch bei Mahlzeiten dem Genuss folgend machen würde. Unterbrochen wird das Heldenstück nur durch das Mitsingen der Hippiehymnen, Freedom, I’m going home, und Gitarrenjaulen nach Jimi Hendrix. Es ist alles real, surreal, unfassbarer Zeitsprung über Jahrzehnte hinweg in ein fremdes Leben aussteigesüchtiger Menschen aus dem Mittelrand einer wirklichen Gesellschaft.

Der jointgeschwängerte Geruch im Bully ist die olfaktorische Ergänzung zum sinnesflutenden Erlebnis dieser Reise. Die letzte Stunde bis Reno ist angebrochen, wo ich aussteigen und mich zum Lake Tahoe absetzen werde, eine Seeauszeit nehmend mit Beobachtung der Vögel und Fische. Thorsten schläft hinten, Miriam vorne oder jedenfalls bewegt sie den Kopf in der anbrechenden Dämmerung wie in Trance von der einen zur anderen Seite. Sind die beiden nur versehentlich durch das Sieb des Zeitrasters gefallen, hat ein besonderer Umstand sie zu dieser Zeit an diesen Ort und in mein Leben gebracht oder ist das alles ein großer Plan im Zeichen des Wassermanns?

Kurz vor meinem Ziel noch mal Unterbrechung für den Liebesbus, wieder die Einladung, wir stehen auf einem Motelparkplatz, haben gerade ein paar eiswürfelgekühlte Getränke an der altersschwachen Theke des Tankstellenshops geholt. Haben die Beiden tatsächlich eine andere Kassette eingelegt, Judy Garland schnulzt jetzt vom Regenbogen und übertönt die Geräusche von der Matratzenfläche.

Während auch der Sonnenverlauf seinen üblichen Gang macht, lasse ich mich auf die Bank am BBQ-Platz neben der Parkbucht sinken und schließe die Augen.